Was es bedeutet, ein Anarchokapitalist zu sein

5. Juni 2023 – von Stephan Kinsella

Butler Shafers jüngster LRC Artikel «Was ist Anarchie?» führte zu Diskussionen auf dem Reason Blog und inspirierte mich, einige Ideen niederzuschreiben, die mir im Kontext hierzu einfielen.

Libertäre Gegner der Anarchie kämpfen gegen einen Strohmann. Ihre Argumente sind gewöhnlich utilitaristischer Natur und laufen hinaus auf «aber Anarchie wird nicht funktionieren» oder «wir brauchen den Staat (oder die Dinge, die er bereitstellt)». Aber diese Angriffe sind bestenfalls widersprüchlich, wenn nicht sogar unaufrichtig. Ein Anarchist zu sein, bedeutet nicht, dass Anarchie «funktionieren» wird (was auch immer das bedeuten mag), auch nicht, dass man prophezeit, dass sie erreicht werden wird oder «kann». Es ist nämlich auch möglich ein pessimistischer Anarchist zu sein. Ein Anarchist zu sein bedeutet lediglich, dass man glaubt, dass Aggression nicht rechtfertigbar ist und dass Staaten notwendigerweise Aggression anwenden. Und dass daher Staaten und die Aggression, die sie anwenden, nicht zu rechtfertigen sind. So einfach ist es. Es ist eine ethische Ansicht, daher ist es kein Wunder, dass es Utilitaristen verwirrt.

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Dementsprechend muss jeder, der kein Anarchist ist, argumentieren, dass entweder a) Aggression rechtfertigbar ist oder b) Staaten (insbesondere Minimalstaaten) nicht notwendigerweise Aggression anwenden.

Das zweite Argument ist offensichtlich falsch. Staaten besteuern immer ihre Bürger, was eine Form von Aggression darstellt. Sie verbieten immer konkurrierende Sicherheitsdienstleister, was auch Aggression darstellt. (Ganz zu schweigen von den zahllosen Gesetzen, die opferlose Verbrechen schaffen, die unausweichlich, und ohne eine einzige Ausnahme in der Geschichte, der Bevölkerung aufgezwungen werden. Warum Minarchisten glauben, dass ein Minimalstaat überhaupt möglich ist, ist schon sehr erstaunlich.)

Zum Punkt a): auch Sozialisten und Kriminelle behaupten, dass Aggression gerechtfertigt ist. Das rechtfertigt sie aber nicht. Kriminelle, Sozialisten und Anti-Anarchisten müssen immer noch beweisen, dass Aggression – die Initiierung von Gewalt gegen unschuldige Opfer – rechtfertigbar ist. Aber selbstverständlich ist es nicht möglich, dies zu beweisen. Aber Kriminelle fühlen sich nicht genötigt, Aggression zu rechtfertigen – warum also sollten Anhänger des Staates sich dazu genötigt fühlen?

Konservative und minimalstaatlich-libertäre Kritik der Anarchie mit der Begründung, dass sie nicht «funktioniere» oder nicht «praktikabel» sei, ist einfach widersprüchlich. Anarchisten behaupten nicht (notwendigerweise), dass Anarchie jemals erreicht werden wird – ich zum Beispiel glaube nicht daran. Aber das rechtfertigt noch nicht den Staat.

Schauen wir uns eine Analogie an: Konservative und Libertäre stimmen alle darin überein, dass private Verbrechen (Mord, Raub, Vergewaltigung) ungerechtfertigt sind und nicht auftreten «sollten». Aber ganz gleich, wie gut die meisten Menschen sein mögen, es wird immer mindestens ein kleiner Teil auf Gewalt zurückgreifen. Verbrechen werden immer mit uns sein. Aber wir verurteilen Verbrechen dennoch und arbeiten daran, es zu verringern.

Ist es logisch denkbar, dass es einmal kein Verbrechen geben könnte? Klar. Jeder würde freiwillig wählen, die Rechte der anderen zu respektieren. Dann gäbe es kein Verbrechen. Es ist leicht, sich das vorzustellen. Aber in Anbetracht unserer Erfahrung mit der menschlichen Natur und seinen Handlungen kann man mit Sicherheit sagen, dass es immer Verbrechen geben wird. Dennoch betrachten wir Verbrechen als böse und durch nichts zu rechtfertigen, obwohl es unausweichlich ist, dass sie geschehen. Auf meine Annahme, dass Verbrechen unmoralisch sind, wäre es einfach blödsinnig und/oder unehrlich zu sagen: «aber dass ist keine praktische Ansicht» oder «das wird nicht funktionieren», «denn es wird immer Verbrechen geben». Der Fakt, dass es immer Verbrechen geben wird – dass nicht jeder freiwillig die Rechte der anderen respektieren wird – bedeutet nicht, dass es «unpraktisch» ist, dagegen Stellung zu beziehen, auch bedeutet es nicht, dass Verbrechen rechtfertigbar ist. Es bedeutet nicht, dass ein «Fehler» in der Argumentation liegt, dass Verbrechen falsch ist.

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Entsprechend, zu meiner Annahme, dass der Staat und seine Aggression nicht rechtfertigbar ist, ist es unaufrichtig und/oder an der Sache vorbeigehend, zu antworten, «Anarchie wird nicht funktionieren» oder sie ist «unmöglich» oder es ist «unwahrscheinlich, dass sie je auftreten wird».[1] Die Ansicht, dass der Staat nicht rechtfertigbar ist, ist eine normative bzw. ethische Position. Der Fakt, dass nicht genügend Menschen willens sind, die Rechte ihrer Nachbarn zu respektieren, sodass Anarchie entstehen kann, beziehungsweise der Fakt, dass genügend Menschen (fälschlicherweise) die Legitimität des Staates unterstützen, sodass er existieren kann, bedeutet nicht, dass der Staat und seine Aggression rechtfertigbar sind.[2]

Andere utilitaristische Antworten wie «aber wir brauchen den Staat» widersprechen nicht der Annahme, dass Staaten Aggression anwenden und dass Aggression nicht zu rechtfertigen ist. Es bedeutet einfach, dass der Anhänger des Staates sich nicht daran stört, Gewalt gegen unschuldige Opfer zu initiieren – d.h., er teilt die kriminelle/sozialistische Mentalität. Der private Verbrecher denkt, nur sein eigenes Bedürfnis zähle; er ist willens, Gewalt anzuwenden, um seine Bedürfnisse zu befriedigen; zum Teufel damit, was richtig und falsch ist. Der Anhänger des Staates denkt, dass seine Meinung, dass «wir» Dinge «brauchen», es rechtfertigt, Gewalt gegenüber unschuldigen Individuen auszuüben oder anzudrohen. So einfach ist das. Was das auch immer für eine Argumentation sein mag, sie ist nicht libertär. Sie ist nicht contra Aggression. Sie steht für etwas anderes – sicherzustellen, dass gewisse öffentliche «Bedürfnisse» befriedigt werden, ganz gleich, was es koste – aber nicht für Frieden und Zusammenarbeit. Der Kriminelle, Gangster, Sozialist, Sozialdemokrat und selbst der Minimalstaatler teilen alle dies: sie möchten nackte Aggression billigen, aus irgendeinem Grund. Die Details variieren, aber das Resultat ist das Gleiche – unschuldige Leben werden durch physischen Angriff zertrampelt. Manche stehen dazu; andere sind zivilisierter – libertärer, könnte man sagen – und ziehen Frieden dem Konflikt vor.

Da es aber Verbrecher und Sozialisten unter uns gibt, ist es auch keine Überraschung, dass den meisten Menschen ein Grad von verbrecherischem Denken zu eigen ist. Schlussendlich beruht der Staat auf dem stillschweigenden Einverständnis der Massen, die fälschlicherweise der Meinung sind, dass Staaten legitim seien. Aber nichts davon bedeutet, dass die kriminellen Unternehmungen, die von den Massen gebilligt werden, zu rechtfertigen sind.

Es ist an der Zeit für Libertäre, Farbe zu bekennen. Sind Sie für Aggression oder dagegen?

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[1] Ein weiterer Punkt: Meiner Ansicht nach sind wir in etwa ebenso weit davon entfernt, einen Minimalstaat zu erreichen wie eine Anarchie. D.h., beides sind entfernte Möglichkeiten. Sehr auffallend ist, dass fast jede Kritik an der «Undurchführbarkeit», die Minarchisten gegenüber der Anarchie anführen, auch auf den Minimalstaat selbst zutreffen. Beide sind in überwältigender Weise unwahrscheinlich. Beide erfordern ein Umdenken der Ansichten von Millionen von Menschen. Beide begründen sich auf Annahmen, um die sich die meisten Menschen einfach nicht kümmern.

[2] Obwohl die Argumentation für Anarchie nicht von der Wahrscheinlichkeit oder der «Durchführbarkeit» abhängt, genauso wie die Argumentation gegen private Verbrechen nicht vom Verschwinden jedweden Verbrechens abhängt, ist Anarchie klar möglich. Es gibt zum Beispiel Anarchie zwischen Nationalstaaten. Es gibt auch Anarchie inmitten der Regierung, wie im wegweisenden und vernachlässigten Artikel im Journal of Libertarian Studies von Alfred G. Cuzán, «Do We Ever Really Get Out of Anarchy?» («Kommen wir jemals aus der Anarchie heraus?». Cuzán argumentiert, dass sogar inmitten der Regierung selbst Anarchie herrscht, eine interne Anarchie – der Präsident zwingt nämlich nicht buchstäblich die anderen in der Regierung, seinen Befehlen zu gehorchen; sie gehorchen ihm freiwillig, anhand einer bekannten, hierarchischen Struktur. Die (politische) Anarchie der Regierung ist keine gute Anarchie, aber sie zeigt, dass Anarchie möglich ist – sogar, dass wir uns nie vollständig von ihr lösen können. Und Shaffer bringt das einsichtige Argument, dass wir uns in Anarchie zu unseren Nachbarn befinden. Falls nicht die meisten Menschen bereits den Charakter hätten, freiwillig die meisten der Rechte ihrer Nachbarn zu respektieren, wäre Zivilisation unmöglich. Die meisten Leute sind gut genug, Zivilisation auftreten zu lassen, trotz der Existenz eines gewissen Grades von privatem und öffentlichem Verbrechen. Es ist vorstellbar, dass der Grad an Gutherzigkeit ansteigen könnte – beispielsweise aufgrund von Erziehung oder universellerem wirtschaftlichem Wohlstand – in einer Weise, die ausreichen würde, um die Unterstützung der Legitimität von Staaten verpuffen zu lassen. Es ist nur sehr unwahrscheinlich.

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Dieser Artikel ist am 20. Januar 2004 auf der Website LewRockwell.com erschienen unter dem Titel “What It Means To Be an Anarcho-Capitalist”. Übersetzt von Johannes Beifuss. Die Fußnoten sind dem Voluntaryist Handbook von Keith Knight entnommen.

Stephan Kinsella Ist Rechtsanwalt und libertärer Autor in Houston, Texas, USA. Er hält Vorträge, lehrt und publiziert sowohl über juristische Themen, wie etwa Geistiges Eigentum und Internationales Recht, als auch über verschiedene Aspekte libertärer Rechtstheorie.

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